AM6 – Brief an Walter Gropius
Toblach, Donnerstag, 21. Juli 1910


Donnerstag

Mein Geliebter –

Ich schreibe Dir unausgesetzt – und rede leise mit Dir. Du fehlst mir auch als Freund, mit dem man alles besprechen kann – und menschlich. – Was könnte das für ein herrliches Leben werden! Ich liebe an Dir – Deinen Intellect – Deine Künstlerschaft – die ich weiß – bevor ich einen Strich von Dir gesehen habe – Deine Talente – dem Leben gegenüber – Deinen Liebreiz – und nicht zuletzt Deine Schönheit – halt – wo ist denn Deine Noblesse u. Güte geblieben??! Ich weiß wahrlich nicht, wo anfangen und wo aufhören! – Alles an Dir liebe


ich. Es gibt nicht ein Härchen an Dir, das ich nicht durch die Lippen ziehen möchte . . . .

Es gibt nicht eine Stelle an Dir – die ich nicht mit meiner Zunge liebkosen möchte – Du über alles geliebter Mensch – Du! Dieser Moment an Bett steht auch klar vor meinen Augen[.] – Ach – wenn es doch einmal so kommen würde! – Damals glaubte ich noch, dass ich Dein süßes, geliebtes Wesen in mir zu neuer Entfaltung trüge – und war so reich – ich wusste ja selber nicht – wie – heute, wo ich bettelarm bin – heute weiß ich’s!! —

Schreib’ mir – alles von Deinem Leben dort – was Du den ganzen Tag lang machst – wann Du wieder zurück nach Berlin gehst – ob du den Bau vom Sanatorium bekommen hast – was Du vor hast für die nächste Zeit, ob Du am 12. Sept. sicher

nach München kommst — etc[.,] ich möchte alles von Dir wissen – mir ist jeder Schritt, den Du machst – lieb!! Hat Deine Dir was angemerkt und gefragt!! – ? – Schreib mir aufrichtig – alles!

thut mir so wahnsinnig leid – er muss es fühlen, dass ich so gar keine Sehnsucht nach

ihm habe – im Gegentheil, ihn abwehre – was mir bis jetzt auch vollkommen gelungen ist. Ich fühle mich so Dein – dass mir jede Berührung eines andern Mannes als ein schwerer Treuebruch gegen Dich vorkäme.

Mein Mann – Du. Schreibe – schreibe[,] wir haben ja jetzt sonst nichts andres.

Dein Weib


Apparat

Überlieferung

, , , .

Quellenbeschreibung

2 Bl. (4 b. S.) – Briefpapier mit dunkelblauem Monogramm (Zum Material von Alma Mahler) aus den stilisierten Initialen AMs in Prägedruck ().

Beilagen

Umschlag, , Deutschland | A. M. 40. | poste restante | Timmendorfer-Strand | Lübecker Bucht; PSt. (lt. , S. 531, Nr. 112): T[OBLACH] 2 | [Tag] | [Monat] | [Uhrzeit] | 10 | c. Briefmarke fehlt, daher Stempel unvollständig, Höhe des Portos in der Handschrift von AM, wahrscheinlich als Information für einen Boten: 10 [Heller].

Druck

, S. 840, bei Anm. 68 (Auszug in engl. Übersetzung) und S. 926f., bei Anm. 481 (fast vollständig in engl. Übersetzung).

Korrespondenzstellen

Beantwortet durch WG14 vom 23. Juli 1910 (Überschätzt Du mich auch nicht? Ich habe noch nichts geleistet): Ich liebe an Dir – Deinen Intellect – Deine Künstlerschaft […] – Deine Talente, WG15 vom 23. Juli 1910 (Meine Mutter hatte wol eine kleine Ahnung u merkt mir auch noch irgend etwas an): Hat Deine Mutter Dir was angemerkt und gefragt und WG16 vom wahrscheinlich 24. Juli 1910 (Meine Mutter hat mir sicher manches von den Augen ablesen können, es ist mir fur namenlos schwer geworden, ihr nicht mein bewegtes \übervolles/ Herz auszuschütten, es kommt mir wie Unrecht gegen sie vor): Hat Deine Mutter Dir was angemerkt und gefragt!!

Datierung

Poststempel: Durch die abgelöste Briefmarke sind Tag, Monat und Uhrzeit des Poststempels nicht erhalten.

Schreibdatum: irrtümlich „‚Donnerstag‘, den 2[8].7.1910“ (, S. 108, Anm. 51 sowie , S. 39, Anm. 95 und S. 309), irrtümlich „most likely written on the 28th […] July“ (, S. 840, Anm. 68), irrtümlich „25 Aug. or 1 Sept.“ (, S. 927, Anm. 481).

La Grange wies Rothkamms Datierung von AM5 („21 July 1910 by Rothkamm“, , S. 840, Anm. 68) dem vorliegenden Brief AM6 zu, hielt es aber für wahrscheinlicher, dass dieser vom 28. Juli 1910 stammt. An anderer Stelle datierte er AM6 auf den 25. August oder 1. September (, S. 927, Anm. 481). Für die Datierung auf den 21. Juli spricht, dass AM6, wie schon der vorangehende Brief AMs, an Timmendorfer Strand adressiert war, wo sich WG vom 21. bis 23. Juli aufhielt. AMs nachfolgender Brief AM7 vom 24. Juli ging wieder nach Neubabelsberg. Somit können der 25. Juli und spätere Daten ausgeschlossen werden. Aufgrund der Korrespondenzstellen zu WG14 und WG15 (beide vom 23. Juli) wurde der vorliegende Brief AM6 spätestens am 21. Juli 1910 um 20 Uhr abgesendet (nach der Postlaufzeit bis zum Eintreffen am 23. Juli vormittags).

Übertragung/Mitarbeit


(Marie Apitz)
(Jannik Franz)


A

Dreifach unterstrichen.

B

Dreifach unterstrichen.

C

Moment an Guckis Bett – während und Aufenthalt in Tobelbad (Juni und Juli 1910). Die sechsjährige Tochter (Gucki) und deren Kindermädchen hatten zur Kur dorthin begleitet.

D

dort – Das Ferienhaus der Familie Gropius an der Strandallee 52 in Timmendorfer Strand wurde 1888 vom Architekten für gebaut. Diese schenkte das Haus circa 1901 ihrer Nichte (Kromrei 2020, S. 98f.).

E

Bau vom Sanatorium – bislang unbekanntes Frühwerk, möglicherweise identisch mit dem , s. , S. 16.

F

München – Uraufführung der von am 12. September 1910.